Jüdisches Leben
Text: Ursula Mindler-Steiner
Die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Oberwart/Felsőőr beginnt im 19. Jahrhundert und endet gewaltsam im Jahr 1938, als nach dem sogenannten „Anschluss“ (der nationalsozialistischen Machtergreifung) die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) aufgelöst und die jüdische Bevölkerung diskriminiert, enteignet, vertrieben oder ermordet wurde. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kehrten nur wenige Juden und Jüdinnen nach Oberwart/Felsőőr zurück; die Kultusgemeinde konnte nicht mehr wiederbegründet werden, und die jüdische Bevölkerung verschwand in Folge weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis. Sichtbar blieben die zur Zentralmusikschule umfunktionierte ehemalige Synagoge sowie der zusehends verfallende jüdische Friedhof.
1793 wurden erstmals „Israeliten“ in Oberwart/Felsőőr erwähnt (vgl. Kropf, Sozialstruktur), und ein gutes halbes Jahrhundert später setzte eine größere Zuwanderung ein. Bis ins 19. Jahrhundert war Oberwart/Felsőőr ein kleines Dorf in Westungarn, ohne größere wirtschaftliche Bedeutung, zeichnete sich jedoch durch spezifische sprachliche, rechtliche, geographische und konfessionelle Besonderheiten aus (vgl. Die Obere Wart); so lebten dort Menschen römisch-katholischer, evangelischer A.B., evangelischer H.B. und israelitischer Konfession. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts ließen sich vermehrt Jüdinnen und Juden, wie auch andere (vordergründig deutschsprachige) Händler, Gewerbetreibende und Beamte, im freien Raum zwischen den zwei traditionellen Siedlungsteilen „Obertrumm“ und „Untertrumm“ nieder: Im „Obertrumm“ („Felszeg“) befand sich die reformierte Kirche (H.B.), im „Untertrumm“ („Alszeg“) die römisch katholische Kirche (im „Zwischenraum“ dann die evangelische Kirche A.B. und die Synagoge). Heute bildet dieser „Zwischenbereich“ die Ortsmitte (Wiener Straße/Hauptplatz/Steinamangerer Straße). Es gab also kein separates jüdisches Viertel oder Ghetto.
Für die Migrationsbewegungen gab es verschiedene Gründe – religiöse, gesellschaftliche, rechtliche, politische, wirtschaftliche, verkehrstechnische und infrastrukturelle; viele Juden und Jüdinnen zog es aus dem nahegelegenen Városszalónak (Stadtschlaining), wo es eine orthodoxe Kultusgemeinde gab, in das wirtschaftliche aufstrebende, modernere Oberwart/Felsőőr.
Religiöse Infrastruktur
Zu diesem Zeitpunkt gab es in Oberwart/Felsőőr noch keine eigene Kultusgemeinde – die jüdische Bevölkerung unterstand der orthodoxen Kultusgemeinde von Városszalónak (Stadtschlaining), jedoch kam es zunehmend zu Spannungen. 1868 gründete sich in Oberwart/Felsőőr eine Filialgemeinde mit liberaler, neologer, nicht orthodoxer Ausrichtung, und 1904 erbaute man sogar eine eigene Synagoge (heute Zentralmusikschule). Nach dem Ersten Weltkrieg, als das frühere Deutschwestungarn als „Burgenland“ nunmehr zu Österreich gehörte, zog der Schlainiger Rabbiner Felix Blau nach Oberwart/Felsőőr, womit der Niedergang der ehemals sehr bedeutenden jüdischen Gemeinde von Schlaining endgültig besiegelt war. Der lang anhaltende Streit um den Sitz der Kultusgemeinde wurde letztlich von Oberwart/Felsőőr gewonnen – im Mai 1930 konstituierte sich offiziell eine eigene Kultusgemeinde, der nunmehr Stadtschlaining als Tochtergemeinde unterstand.
„Aus der Provinz“, in: Die Stimme, 19.6.1930, S. 12
Infolge dessen war man bemüht, die religiöse Infrastruktur auszubauen. Dazu gehört(en) die regelmäßige Abhaltung von Gottesdiensten, rituelle Schlachtungen (Anstellung eines Schächters), die Anstellung eines Rabbiners und Religionsdieners, die Durchführung von Religionsunterricht, die konfessionelle Matrikelführung und die Erhaltung eines Friedhofes.
Jüdischer Friedhof, 2011 (© Ernst Mindler)
Ferner gründeten sich jüdische Vereine, wenngleich sich kein umfassendes jüdisches Vereinswesen ausbildete. Neben einem jüdischen Frauenverein und einem Synagogenverein gab es auch eine Chewra Kadischa, eine „Beerdigungsbruderschaft“, die für die rituellen Bestattungszeremonien und die Verrichtung der Totengebete sorgte. Ebenso sind eine Ortsgruppe des „Bund jüdischer Frontsoldaten“ wie auch zionistische Aktivitäten nachweisbar – ua. existierte ein Zweig des zionistischen Turnvereins „Macabi Hazair“ („Junge Makkabäer“).
„Mit der zionistischen Jugend ‚Macabi Hazair’ in Unterschützen, 1937.“ 1. Reihe vlnr.: Joseph P. Weber, eventuell Fiegler, Gretl Holzer, Alexander Glaser, Bertha oder Olga Schein; 2. Reihe vlnr.: unbekannt, Olga oder Bertha Schein, Eugen Löwy, Moritz Schein, Max Schein, Rosina Angelus. (Foto und Informationen von Joseph P. Weber; © BFG)
Oberwarter Juden und Jüdinnen waren darüber hinaus in nichtjüdischen Vereinen aktiv, und ebenso nahmen Nichtjüdinnen und -juden an jüdischen Veranstaltungen teil. Es gab über die Grenzen der verschiedenen Konfessionen einen gegenseitigen Austausch und ein gesellschaftliches Zusammenleben – man begegnete sich in schulischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, aber auch religiösen und nachbarschaftlichen Kontexten. Dies alles darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch in Oberwart/Felsőőr Antisemitismus gegeben hat.
Nach der Machtergreifung durch die NationalsozialistInnen im März 1938 wurde innerhalb kürzester Zeit die jüdische Infrastruktur zerstört, die jüdische Bevölkerung diskriminiert, vertrieben, ins Exil gezwungen oder ermordet. Nach Kriegsende kehrten nur wenige aus dem Exil oder aus Konzentrationslagern in ihren früheren Heimatort zurück. Das konkrete Schicksal des Großteils der jüdischen Bevölkerung bleibt bis heute ungewiss.
Persönlichkeiten
Gemäß einer Liste der Gemeinde Oberwart/Felsőőr, welche nach dem „Anschluss“ 1938 erstellt worden war, lebten zu dem damaligen Zeitpunkt 141 Juden und Jüdinnen in Oberwart/Felsőőr. Frauen, Männer und Kinder; unterschiedlichen Alters; arme wie reiche; in den verschiedensten Berufen zuhause: Angestellte, Anwälte, Ärzte, Hausfrauen, Handwerker (Schneider, Kürschner, Schuster usw.), HausiererInnen, Kaufleute, Kellner, Marktfieranten (umherziehender Händler auf Märkten), SchülerInnen, StudentInnen etc. Unter ihnen fanden sich heute in Vergessenheit geratene Familien wie jene von Paula Destowet geb. Würzburger, welcher die Flucht in die USA gelang, aber auch gesellschaftlich bedeutende Familien wie jene von Benö Löwy (geb. 1875), die spätestens ab 1903 ein Geschäft an jener Stelle besaßen, an der sich heute die Bezirkshauptmannschaft befindet, oder Samuel (geb. 1864, ermordet in Auschwitz) und Ida Schlenger (ermordet in Auschwitz), in deren Haus heute die RAIKA ihren Sitz hat, deren Holzsägewerk auf dem Gelände stand, das heute als „Südtiroler Siedlung“ bekannt ist und deren Enkelin Margarethe Daisy Agnes (geb. 1929 in Bratislava) heute als Daisy Soros in den USA lebt (http://burgenland.orf.at/tv/stories/2509288/; Abruf: 11.5.2015)
Nicht unerwähnt bleiben sollte auch der erste Rabbiner des Ortes – Dr. Felix Blau (1861–1932). Der 1861 in Székesfehérvár und seit 1902 in Stadtschlaining wirkende Vater zweier Töchter war als Rabbiner nicht nur der religiöse Leiter der Gemeinde, sondern beaufsichtigte auch die Produktion koscherer („reiner“, „geeigneter“) Produkte.
Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Weitere Kurzbiographien zu jüdischen Oberwarterinnen und Oberwartern finden sich in Mindler, Grenz-Setzungen, S. 248–427.
Biographische Online-Recherchen sind auch über folgende Datenbanken möglich:
Datenbank von Yad Vashem: https://yvng.yadvashem.org/?language=de
Digitales Gedenkbuch der Burgenländischen Forschungsgesellschaft: http://www.forschungsgesellschaft.at/emigration/frames/fr_datenbank_d.htm
Shoah-Opferdatenbank des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes: http://www.doew.at/personensuche
Joseph P. Weber (Video)
Joseph Paul Weber wurde 1922 in Oberwart geboren. Er erlebte die Machtübernahme der Nationalsozialisten im März 1938 in Wien, wo er zur Schule ging. Im Mai 1938 wurde dem Vater das Geschäft in Oberwart weggenommen, die Gestapomänner drohten der Familie mit dem Konzentrationslager, sollte sie nicht binnen vier Tagen das Land verlassen. Die Familie Weber zog nach Wien in Untermiete und begann sich um Ausreisepapiere zu kümmern. Schließlich gelang ihnen die Flucht nach Shanghai. 1947 ging Joseph P. Weber nach Bolivien und kam 1952 schließlich in die USA, wo er 2008 in Pacifica starb.
Quellen
Die Ausführungen basieren, sofern nicht anders ausgewiesen, auf den Ausführungen in Mindler, Ursula: Grenz-Setzungen im Zusammenleben. Verortungen jüdischer Geschichte in der ungarischen/österreichischen Provinz am Beispiel Oberwart/Felsőőr (= Schriften des Centrums für Jüdische Studien 20). Innsbruck 2011; sowie Mindler, Ursula: Die jüdische Gemeinde von Oberwart/Felsőőr. Oberwart 2013.
Verwendete Literatur und gedruckte Quellen (Auszug):
Adressbuch von Österreich, Band Burgenland, 1938.
Baumgartner, Gerhard: Geschichte der jüdischen Gemeinde zu Schlaining. Schlaining 1988.
Brustmann, Ursula: „Wir waren Oberwarter, so wie alle anderen.“ Die Juden in Oberwart 1824–1938. Ungedr. Seminararbeit. Wien 1991.
Bundesamt für Statistik (Hg.): Die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934. Burgenland. Wien 1935.
Csoknyai, Peter: Statistische Daten. In: Die Obere Wart. Oberwart 1977, S. 293–303.
Duizend Jensen, Shoshana: Jüdische Gemeinden, Vereine, Stiftungen und Fonds. „Arisierung“ und Restitution (= Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 21/2). Wien-München 2004.
Gold, Hugo: Gedenkbuch der untergegangenen Judengemeinden des Burgenlandes. Tel Aviv 1970.
Goshen, Seev: Eichmann und die Nisko-Aktion im Oktober 1939. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 29. Jg., H. 1 (1981), S. 74–96
Heinrich, Kurt F. J.: Erinnerungen an Burgenland. In: Burgenländische Heimatblätter 63. Jg., H. 3&4 (2001), S. 21–33.
Hörz, Peter F. N.: Jüdische Kultur im Burgenland. Historische Fragmente – volkskundliche Analysen (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien 26). Wien 2005.
Homma, Josef Karl/Prickler, Harald/Seedoch, Johann: Die Geschichte der Stadt Pinkafeld. Pinkafeld 1987.
John, Michael: Die jüdische Bevölkerung in Wirtschaft und Gesellschaft Altösterreichs (1867–1918). Bestandsaufnahme, Überblick und Thesen unter besonderer Berücksichtigung der Süd-Ostregion. In: Kropf, Rudolf (Red.): Juden im Grenzraum (= WAB 92). Eisenstadt 1993, S. 197–244.
Kropf, Rudolf: Beiträge zur Sozialgeschichte des südburgenländisch-westungarischen Judentums vom Toleranzpatent Josephs II. bis zur Revolution von 1848. In: Forscher – Gestalter – Vermittler. Festschrift Gerald Schlag (= WAB 105). Eisenstadt 2001, S. 209–223.
Kropf, Rudolf: Sozialstruktur und Migration von der Mitte des 18. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts am Beispiel der Schlaininger Judengemeinde. In: Kropf, Rudolf (Red.): Juden im Grenzraum (= WAB 92). Eisenstadt 1993, S. 107–123.
Lang, Alfred/Tobler, Barbara/Tschögl, Gert (Hg.): Vertrieben. Erinnerungen burgenländischer Juden und Jüdinnen. Wien 2004.
Langeder, Gertrud: Die Beziehungen zwischen Juden und Grundherrschaft im Burgenland. Ungedr. Diss. Wien 1946.
Mindler, Ursula: Grenz-Setzungen im Zusammenleben. Verortungen jüdischer Geschichte in der ungarischen/österreichischen Provinz am Beispiel Oberwart/Felsőőr (= Schriften des Centrums für Jüdische Studien 20). Innsbruck 2011.
Mindler, Ursula: „Ich hätte viel zu erzählen, aber dazu sage ich nichts…“. Oberwart 1938. Oberwart 2008.
Mindler, Ursula: „Ich weiß eigentlich nicht, als was ich mich fühle“. Zur Frage „burgenländischer“ „Identität(en)“ während der NS-Zeit. In: insich(t) & ansicht(t). Das Burgenland von 1921 bis 2911. Tagungsband des Symposions des Burgenländischen Landesarchivs von 26./27. Mai 2011 (= BF 101). Eisenstadt 2011, S. 137–188.
Mindler, Ursula: „Die jüdische Bevölkerung besitzt wie bekannt großes Anpassungsvermögen…“. Juden und Jüdinnen von Oberwart/Felsőőr und ihre gesellschaftlich-kulturellen Verortungen Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts. In: Przybilski, Martin/Schapkow, Carsten (Hg.): Konversion in Räumen jüdischer Geschichte (= Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften 11). Wiesbaden 2014, S. 67–80.
Mindler, Ursula: Die jüdische Gemeinde von Oberwart/Felsőőr. Oberwart 2013.
Mindler, Ursula: NS-Herrschaft. Aspekte politischer Eliten. In: Tagungsbericht des 25. österreichischen Historikertags in St. Pölten 2008. St. Pölten 2010, S. 121–130.
Die Obere Wart. Festschrift zum Gedenken an die Wiedererrichtung der Oberen Wart im Jahre 1327. Oberwart 1977.
Prickler, Harald: Die „Obere Wart“ in der Neuzeit. In: Die Obere Wart. Oberwart 1977, S. 165–182.
Reiss, Johannes: Hier in der heiligen jüdischen Gemeinde Eisenstadt. Die Grabinschriften des jüngeren jüdischen Friedhofes in Eisenstadt. Eisenstadt 1995.
Salzer-Eibenstein, Gerhard W.: Die Geschichte des Judentums in Südösterreich von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. In: Geschichte der Juden in Südost-Österreich. Graz 1988, S. 27–148.
Taubes, Löbl/Bloch, Chajm (Hg.): Jüdisches Jahrbuch für Österreich. Wien 5693 [1932].
Tschögl, Gert: Geschichte der Juden in Oberwart. In: Baumgartner, Gerhard/Müllner, Eva/Münz Rainer (Hg.): Identität und Lebenswelt. Ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt im Burgenland. Eisenstadt 1989, S. 116–127.
Tschögl, Gert: Geschichte der Oberwarter Juden. Ungedr. Hausarbeit. Wien 1988.
Unabhängiges Antifaschistisches Personenkomitee Burgenland (Hg.): „Naziherrschaft und was uns blieb!“. Oberwart 1989.
Van Rahden, Till: Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 139). Göttingen 2000.
Vielmetti, Nikolaus: Die Juden in Oberwart. In: Die Obere Wart. Oberwart 1977, S. 485–486.
Links:
Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschsprachigen Raum (von Klaus-Dieter Alicke): http://www.compass-infodienst.de/Klaus-Dieter-Alicke-Lexion-der-juedischen-Gemeinden-im-deutschen-Sprachraum.6958.0.html
Nationalsozialismus und Holocaust: Gedächtnis und Gegenwart: www.erinnern.at