Mittäterschaft der Eisenbahngesellschaften
Text: Gert Tschögl
Der Bahnhof als Ort der Abreise und Deportation ist auch ein Symbol für die unfreiwillige Veränderung von Lebensumständen. Er steht somit für den Ausschluss aus der Gemeinschaft, die unfreiwillige Abreise von Menschen – in die Emigration, in Gefängnisse, in Lager, in den Tod. Oberwarter und Oberwarterinnen wurden in der NS-Zeit von ihren Mitmenschen ausgegrenzt, gedemütigt, diskriminiert und verfolgt: aus rassistischen, politischen oder religiösen Gründen, aufgrund ihrer Sexualität oder weil man sie als „lebensunwertes Leben“ betrachtete.
Das europäische Eisenbahnnetz spielte eine zentrale Rolle bei den Deportationen und in der Vernichtungspolitik des im Nationalsozialismus. Ohne Einsatz von Eisenbahnzügen wäre der Transport von Millionen Menschen in Gefängnisse, Anhalte-, Sammel- und Transitlager, Vernichtungs- und Konzentrationslager, von ZwangsarbeiterInnen auf das Gebiet des NS-Staates und von Soldaten an die Front nicht möglich gewesen.
Einerseits war die Deutsche Reichsbahn unmittelbar an den Deportationen beteiligt und mit ihr auch ehemals österreichische Bahnbedienstete, welche zwischen 1938 und 1945 Bedienstete der Deutschen Reichsbahn waren. Andererseits waren es aber auch Bedienstete der Bahn, die in Österreich bzw. der Ostmark aktiven Widerstand gegen das NS-Terrorregime leisteten. 154 von ihnen wurden aus diesem Grund zum Tode verurteilt und hingerichtet, 135 starben in Konzentrationslagern oder Gefängnissen und 1.438 wurden zu KZ- oder Gefängnisstrafen verurteilt.
Beginn der Vertreibungen und Deportationen
Erste kollektive Ausweisungen und Vertreibungen über die Grenze fanden im Burgenland bereits kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1938 statt. Teilweise zu Fuß in Kleingruppen um die 20 Personen (Lang u.a., 2004, 319f) oder in Bussen und auf Lastwägen (Lang u.a., 2004, 44 und 52ff) wurden jüdische Familien über die Grenze ins Niemandsland getrieben oder nach Wien transportiert. Im Bezirk Oberwart waren unter anderem Juden und Jüdinnen aus Rechnitz von dieser Vorgangsweise betroffen. Sie brachte man im Frühjahr 1938 über die Grenze nach Jugoslawien, wo sie wochenlang in einer Scheune im Niemandsland hausen mussten, bis sie schließlich nach internationalen Interventionen Asyl in Jugoslawien erhielten (Widerstand und Verfolgung, 1983, 296).
Die ersten Massendeportationen unter dem Einsatz von Eisenbahnzügen als Transportmittel wurden im Deutschen Reich im Oktober 1938 durchgeführt. 17.000 Juden und Jüdinnen wurden von den Behörden in versiegelten Sonderzügen nach Polen abgeschoben (Yahil, 1998, 167).
Als Leiter der „Zentralstelle für jüdischen Auswanderung“ in Wien plante Adolf Eichmann im Oktober 1939 eine Massendeportation von Juden und Jüdinnen aus der Ostmark (Österreich) und dem „Protektorat Böhmen und Mähren“ in die Nähe der Stadt Nisko (“Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete“). Dort sollten sich die Deportierten – wie ihnen gesagt wurde – eine neue Existenz aufbauen können. Aus Wien wurden unter der Vortäuschung eines Auswanderertransportes zwei Transporte nach Nisko mit insgesamt 1.600 Männern zusammengestellt. Die Mehrheit der Männer wurde jedoch nach ihrer Ankunft über die deutsch-sowjetische Demarkationslinie in die Sowjetunion gejagt. Zu den ursprünglich von Eichmann geplanten Deportationen aller bis Ende 1939 in Wien verbliebenen Juden und Jüdinnen kam es nicht, da dies Heinrich Himmler bis auf weiteres untersagte, weil in den besetzten Gebieten in Polen der Ansiedlung von deutschen Volksangehörigen (damalige Bezeichnung „Volksdeutsche“) der Vorrang gegeben werden sollte (Goshen, 1981, 87ff, Yahil, 1998, 205ff).
Transporte in die Vernichtungslager
Spätestens mit der im Frühjahr 1941 getroffenen Entscheidung zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas (Yahil, 1998, 357f) stellte sich für den NS-Verwaltungsapparat die Frage nach dem Transport von Millionen von Menschen in die besetzten Gebiete in Polen und Weißrussland, wo die Errichtung von Vernichtungslagern geplant war.
Die Adolf Eichmann unterstehende, verharmlosend „Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten“ genannte Abteilung in der Gestapo in Berlin regelte die Deportation in die Vernichtungslager in Zusammenarbeit mit der Deutschen Reichsbahn. Eichmann bemühte sich besonders um die Einrichtung eines regelmäßigen Fahrplanes für die Deportationszüge. Züge, die ZwangsarbeiterInnen aus der Sowjetunion nach Deutschland transportierten, brachten auf dem Rückweg die zu deportierenden Menschen aus Deutschland direkt in die Vernichtungslager in Osteuropa (Lamprecht/Mindler, 2007, 250ff / Yahil, 1998, 442f).
Verantwortlich für die Transporte in die Vernichtung waren jedoch nicht alleine Adolf Eichmann und der in seiner Abteilung für Transporte zuständige Franz Novak. Neben Polizeibehörden und Verwaltungspersonal in den Städten und Ghettos, aus denen die Deportationen abgingen, waren auch führende Beamte der Reichsbahn und ihnen unterstelltes Personal beteiligt.
Oberwart als Ausgangsbahnhof
Die bereits kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten inhaftierten und zur Ausreise genötigten jüdischen Familien konnten in den meisten Fällen nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln wie Autobus oder Eisenbahn nach Wien fliehen. Im Burgenland gab es aber in einzelnen Gemeinden wie z.B. Deutschkreutz und Gols (Lang u.a., 2004, 44 und 52ff) auch kollektiv durchgeführte Zwangstransporte mit Bussen nach Wien. Zum Zeitpunkt, als die Vernichtungspolitik gegen die jüdische Bevölkerung und andere Bevölkerungsgruppen bereits die Phase der ersten Planungen, Anordnungen und Erlässe erreicht hatte, bekam der Bahnhof Oberwart seiner geografischen Lage wegen eine regionale Bedeutung für die Deportation der Roma und Romnija.
Am 1. Oktober 1941 erging von Heinrich Himmler der Erlass zur „Abschiebung von Zigeunern“. Darin wird von der Deportation von 5.000 Roma und Romnija gesprochen, die in bereitgestellten Eisenbahnzügen zu erfolgen hatte. Neben den Bahnhöfen Hartberg, Fürstenfeld, Mattersburg und Rotenturm, wird in diesem Erlass auch der Bahnhof Oberwart mit dem Deportationsdatum „8. November 1941 um 8:55 Uhr“ genannt. Der Transportzug fuhr nach Łódź („Litzmannstadt“). Alle 5.007 nach Łódź deportierten Roma und Romnija starben im „Zigeunerlager Litzmannstadt“ oder wurden im Dezember 1941 bzw. Jänner 1942 im Vernichtungslager Kulmhof/Chełmno ermordet (Freund u.a., 2004, 43ff). Vom Bahnhof Oberwart ging am 5. April 1943 eine weitere Deportation von Roma und Romnija ab. Dabei kam es auch zu Fluchtversuchen, die jedoch von Bewachungsmännern vereitelt wurden. An diesem Tag waren 1.405 Roma und Romnija von der Deportation mit dem Ausgangsbahnhof Oberwart betroffen; bei jener vom 8. November 1941 etwa 2.000 (Freund u.a., 2004, 48ff). Angesichts der großen Anzahl deportierter Menschen und der zentralen Lage des Bahnhofes im Ortszentrum, blieben diese Deportationen der lokalen Bevölkerung nicht verborgen.
Quellen
Literatur:
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.): Widerstand und Verfolgung im Burgenland 1934–1945. Eine Dokumentation. Wien 1983 (2. Auflage).
Freund, Florian / Baumgartner, Gerhard / Greifeneder, Harald: Vermögensentzug, Restitution und Entschädigung der Roma und Sinti. (=Hg. Jabloner, Clemens u.a.: Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich. Band 23/2). Wien-München 2004.
Goshen, Seev: Eichmann und die Nisko-Aktion im Oktober 1939. Eine Fallstudie zur NS-Judenpolitik in der letzten Etappe vor der Endlösung, in: Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte 29 (1981), S. 74–96.
Lamprecht, Gerald / Mindler, Ursula: Verfolgung – Flucht – Deportation. Die Eisenbahn und die Schattenseite der Moderne. In: Bouvier, F. / Reisinger, N. (Hg.): Stadt und Eisenbahn. Graz und die Südbahn. Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, Band 37. Graz 2007. S. 241-263.
Lang, Alfred / Tobler, Barbara / Tschögl, Gert (Hg.): Vertrieben. Erinnerungen burgenländischer Juden und Jüdinnen. Wien 2004.
Pätzold, Kurt / Schwarz, Erika: „Auschwitz war für mich nur ein Bahnhof“. Franz Novak - der Transportoffizier Adolf Eichmanns. Berlin 1994.
Yahil, Leni: Die Shoah. Überlebenskampf und Vernichtung der europäischen Juden. München 1998.
Internetmedien:
Videoausschnitt: Interview mit Eva Dutton. 1925 geboren und aufgewachsen in Neusiedl am See, erzählt sie über ihre Deportation von Sopron nach Auschwitz-Birkenau, die Ankunft in Auschwitz und über ihre Befreiung.
https://vimeo.com/83916515
„Verdrängte Jahre. Bahn und Nationalsozialismus in Österreich 1938–1945.“ (Ausstellung 2012): http://konzern.oebb.at/de/verdraengtejahre/Verdraengte_Jahre/index.jsp (Download vom 19.2.2015)
Video zur Eröffnung der Ausstellung „Verdrängte Jahre. Bahn und Nationalsozialismus in Österreich 1938–1945.“ (2012): https://www.youtube.com/watch?v=Lbb5WloLjLo#t=47