Begriffserklärung
Text: Michael Hess
Nach dem derzeitigen Wissenstand wurden im Zuge der „NS-Euthanasie“ 354 dokumentierte burgenländische Opfer ermordet. Die Dunkelziffer von nicht be- und nachweisbaren Opfern im Rahmen der „dezentralen Euthanasie“ (= „wilde Euthanasie“) liegt dabei noch weit höher. Zum Wohl der „Reinheit des Volkskörpers“ wurden psychisch kranke, „asoziale“ oder „fremdrassige“ Menschen brutal getötet. Der Wahnsinn „NS-Euthanasie“ betraf nicht nur anonyme Opfer irgendwo im Deutschen Reich an einem fernen Ort, sondern geschah direkt neben unserer Haustür, in unseren Gemeinden, an Menschen, die unseren Eltern und Großeltern persönlich bekannt waren. 8 Opfer der „NS-Euthanasie“ stammen nach ihrem Geburts- oder Wohnort aus Oberwart, sie wurden in der Tötungsanstalt Hartheim bei Linz ermordet. Insgesamt wurden aus dem Bezirk Oberwart 67 Frauen und Männer Opfer der nationalsozialistischen Mordaktion.
Dieser Massenmord wurde von den Nationalsozialisten mit dem Begriff „Euthanasie“ verharmlosend bezeichnet. Das Wort „Euthanasie“ ist eine Ableitung des griechischen „euthanasia“, das wiederum eine Zusammensetzung des griechischen „eu“ (= gut) und „thanatos“ (= Tod) ist. „Euthanasie“ bedeutet demnach soviel wie „schöner Tod“. Es steht für ein schnelles und schmerzloses Sterben.
Die „NS-Euthanasie“ hat mit dem ursprünglichen Euthanasie-Begriff nichts gemeinsam. Die NS-Euthanasie hatte die Tötung „unwerten Lebens“ zum Ziel. Das steht somit im krassen Widerspruch zur eigentlichen Bedeutung des Wortes Euthanasie. In der NS-Diktion war der Begriff „Euthanasie“ eine sprachliche Tarnung. Kranke Menschen wurden nicht von ihrem Leid erlöst. Sie wurden als „minderwertig“ klassifiziert und ermordet, obwohl sie noch jahre- oder jahrzehntelang weiterleben hätten können. Die Opfer wurden als „geisteskrank“ abgestempelt, eine Bezeichnung, die bis heute noch pauschal auf behinderte Menschen angewandt wird. Jedoch „geisteskrank“ im eigentlichen Sinne war nur ein Teil der Opfer. Viele waren lediglich geistig unterentwickelt, körperlich missgebildet, blind oder taub, manisch depressiv, Epileptiker, Senile oder Alkoholiker.
"NS-Euthanasie"
Das Töten beginnt – die Umsetzung der „NS-Euthanasie“
Aufgrund einer auf den 1. September 1939 rückdatierten „Ermächtigung“ Hitlers begann die die zentral organisierte Vernichtungsaktion gegen Behinderte, psychisch Kranke und andere PatientInnen der Heil- und Pflegeanstalten. Der Übergang von der Zwangssterilisierung zur geplanten und zentral organisierten „Euthanasie“-Mordaktion fiel nicht zufällig mit dem Kriegsbeginn 1939 zusammen. Denn der nationalsozialistischen Führung war sehr wohl bewusst, dass eine Durchführung der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ in Friedenszeiten auf großen Widerstand stoßen würde. Benannt wurde die so genannte „Aktion T4“ nach dem Sitz der Euthanasie-Tarnorganisationen in der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Mittels Meldebögen mussten von den Anstalten alle in Frage kommenden PatientInnen nach Berlin gemeldet werden. Gutachter entschieden nun über Leben und Tod der PatientInnen. Die zur Tötung vorgesehenen PatientInnen wurden von den Anstalten in eine der 6 Tötungsanstalten des Deutschen Reiches, darunter Schloss Hartheim bei Linz, verbracht.
Hier wurden sie mit Gas ermordet. Todesart und -ort wurden von eigens eingerichteten Sonderstandesämtern systematisch verfälscht, um die „Euthanasie-Aktion“ zu verschleiern. Insgesamt fielen rund 70.000 Menschen der „Aktion T4“ zum Opfer.
Aufkommende Gerüchte, der Widerstand der Kirchen und die massive Ablehnung der Bevölkerung sorgten schließlich im August 1941 die Einstellung der „Aktion T4“. Trotz des offiziellen Stopps fielen weitere 30.000 Menschen im Rahmen der dezentralen Euthanasie („wilde Euthanasie“) – bei der PatientInnen systematisch vernachlässigt wurden oder verhungerten – und der „Aktion 14f13“ – bei der kranke und nicht arbeitsfähige KZ-Häftlinge aussortiert und in Tötungsanstalten vergast wurden – zum Opfer.
Die Opfer der „NS-Euthanasie“ kamen zu einem Großteil aus österreichischen Anstalten nach Hartheim, wobei in unmittelbarer Nähe der Tötungsanstalt so genannte „Zwischenanstalten" eingerichtet wurden. Die Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart in Linz spielte dabei eine wichtige Rolle. Während nur eine bestimmte Patientenzahl direkt nach Hartheim gebracht wurde, wurden die übrigen vorübergehend aus Kapazitätsgründen in Niedernhart untergebracht. Von dort wurden die PatientenInnen wenige Tage oder Wochen später ebenfalls nach Hartheim transportiert und vergast.
Transporte von BurgenländerInnen nach Hartheim:
• 86 Personen vom 20.08.1940 bis 16.05.1941 von der Heil- und Pflegeanstalt Ybbs an der Donau.
• 79 Personen vom 13.06.1940 bis 7.08.1941 vom Landesklinikum Mauer-Öhling bei Amstetten.
• 36 Personen von der Heil- und Pflegeanstalt Gugging in Niederösterreich.
• 33 Personen vom 15.07.1940 bis 31.03.1941 von der „Niederösterreichischen Landesheil- und Pflegeanstalt für Geistes- und Nervenkranke „Am Steinhof“.
• 63 Personen von der Landesheil- und Pflegeanstalt „Am Feldhof" in Graz.
Der Aufenthalt in „Zwischenanstalten“ diente auch der Tarnung, denn für die Familien wurde es dadurch schwieriger, den Verbleib ihrer Angehörigen zu eruieren. Die Transporte aus den Anstalten nach Hartheim wurden mit der Eisenbahn und mit Bussen durchgeführt. wurden so 70.000 Menschen zur Tötung aussortiert.
Die Listen mit den zur Tötung vorgesehenen Patienten wurden an die Gekrat zur Vorbereitung des Abtransportes gesandt, gleichzeitig wurden die betroffenen Anstalten verständigt. Der Transport in die Tötungsanstalten wurde per Bahn oder grauen Bussen durchgeführt. Ein Pfleger der Pflegeanstalt Gugging sagte dazu Folgendes:
„Als die Massentransporte in Gugging einsetzten, kam auf die Abteilung eine Liste, die dort Verzeichneten wurden auf die Abteil. 6 gebracht, von wo aus sie zum Transport kamen. Beim ersten Transport gab die Abtlg. 5 auch arbeitsfähige, wenn auch nicht besserungsfähige Pfleglinge ab. Wir erfuhren über das Reiseziel nichts näheres, hörten nur, dass es sich um eine Versetzung in das Reich handle. Ich sah einmal einen solchen Transport, der mit glaubl. 2 grossen blau verglasten Überlandautobussen bewerkstelligt wurde.“ (WStLA, Vr. 681/55, Gelny, Teil 1, 2. Band, S. 434)
Die Angehörigen hatten von diesen Transporten keine Ahnung. Im Zuge der Geheimhaltung und Verschleierung findet sich auf den Krankenakten lediglich der Stempelaufdruck „In eine der Direktion nicht genannte Anstalt übersetzt“, was gleichbedeutend mit dem Abtransport nach Hartheim und somit der Ermordung des Patienten war.
Nach dem offiziellen Stopp der T4-Aktion wurden die Anstalten vielfach „Sterbestationen“ im Rahmen der dezentralen („wilden“) Euthanasie. Aus den Krankenakten kann man schließen, dass man sich bewusst nur wenig um die Behandlung und Versorgung kümmerte, sodass zahlreiche PatientenInnen den Tod fanden.
NS-Euthanasieopfer nach Bezirken
Quelle: Michael Hess
Gewichtstabelle aus einem Krankenakt als Beispiel der körperlichen Vernachlässigung. Quelle: Niederösterreichisches Landesarchiv
Zwangssterilisation
Ein Kernstück der nationalsozialistischen Ideologie bildete die Rassen- und Bevölkerungspolitik. Bereits 1924 kündigte Adolf Hitler an, dass der völkische Staat mit den „modernsten ärztlichen Hilfsmitteln“ für den konkurrenzlosen Bestand der nordisch-arischen „Herrenrasse“ sorgen werde. Dabei sollten unter anderem Kranke und erblich Belastete für „zeugungsunfähig“ erklärt werden.
Bereits am 14. Juli 1933 – kein halbes Jahr nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland – gingen die Nationalsozialisten an die Umsetzung ihrer Ausgrenzungs- und Vernichtungspläne. Den Anfang machte das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Dieses hatte zum Zweck die „arische Herrenrasse aufzuarten“ und „rassisch Minderwertige“ oder nicht Leistungsfähige aus der „Volksgemeinschaft“ auszustoßen. Nach dem Gesetz konnte jeder gegen seinen Willen sterilisiert werden, der an schwerem Alkoholismus, angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem Irresein oder den erblichen Formen von Veitstanz, Blindheit, Taubheit und schwerer körperlicher Missbildung litt. Zudem wurde das Gesetz auf „Asoziale“ ausgedehnt. Sobald die Unfruchtbarmachung rechtskräftig beschlossen war, setzten die Gesundheitsämter diese notfalls unter Einsatz von Polizeigewalt durch. Das Gesetz trat am 1. Januar 1934 in Kraft und wurde nach einer Verordnung vom 14.11.1939 am 1.1.1940 auch in der Ostmark eingeführt.
Durch eine geschickte und breit angelegte Propaganda, die mit der Erhaltung und Verbesserung der Rasse warb, fand es auch bald Akzeptanz in der Bevölkerung. Der Widerstand gegen die Zwangssterilisierung war gering und kam fast nur aus katholischen Kreisen.
1935 wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses durch einen Abtreibungsparagraphen erweitert, dem gemäß zwangsweise bis zum 6. Monat Abtreibungen vorgenommen werden konnten, wenn die Frau zur Sterilisierung verurteilt war. Bei jüdischen Frauen durfte eine Schwangerschaft seit 1938 sogar ohne Angabe von Gründen unterbrochen werden.
Die Rolle der Gesundheitsämter/Amtsarzt bei der Zwangssterilisierung
Eine zentrale Rolle in der nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik kam der Funktion des Amtsarztes zu. Noch im Dezember 1938 wurde in der „Ostmark“ das Gesundheitssystem nach dem Vorbild des „Altreiches“ umgebaut. Zu einem wichtigen Instrument der NS-Rassenhygiene sollten dabei die in den Landkreisen (= Bezirkshauptmannschaften) eingerichteten Gesundheitsämter werden. Der Leiter des Gesundheitsamtes war der Amtsarzt. Als „Erbpolizei“ konnte der Amtsarzt u.a. über die Vergabe von Kinderbeihilfen oder Ehetauglichkeitszeugnissen entscheiden. Er erstellte aber auch Anträge zur Zwangssterilisation, meldete behinderte Neugeborene und sammelte belastende Informationen bei der totalen erbbiologischen Erfassung der Bevölkerung.
Nach einer Anzeige folgten Ermittlungen und Recherchen, die ohne das Wissen des Betroffenen geführt wurden und die der Amtsarzt zentral koordinierte. Auch die am Gesundheitsamt beschäftigten Fürsorgerinnen wurden damit beauftragt, Berichte über die soziale Situation der Betroffenen zu verfassen. Die Gesundheitsfürsorgerinnen, die über den Gesundheitszustand vieler Familien ziemlich genau Bescheid wussten, fungierten somit als wichtige Helferinnen des Amtsarztes. Die NS-Rassenpolitik wurde somit auch in die Gesundheitsverwaltung nicht nur auf lokaler Ebene tief verankert, sondern reichte weit in den Alltag der Bevölkerung hinein
Ein Sterilisationseingriff konnte von dem Betroffenen selbst, von dessen Vormund, aber auch vom Anstaltsleiter oder vom Amtsarzt beantragt werden. Durch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ waren die Hausärzte und alle mit Kranken beschäftigten Personen, dazu verpflichtet, Erbkrankheiten anzuzeigen. Wertvolle Informanten und Zuarbeiter der Gesundheitsämter waren – bewusst oder unbewusst – auch Gemeindeärzte, Hebammen, Bürgermeister, Arbeitgeber, Lehrer, Musterungsärzte der Wehrmacht, Ärzte in Kranken- und Strafanstalten und viele andere. Der Denunziation waren dabei Tür und Tor geöffnet.
So musste sich beispielsweise der 15-jährige N. N. aus der Region Stegersbach im November 1942 einer ärztlichen Untersuchung und einer Intelligenzprüfung stellen. Bei dieser Prüfung wurde Orientierung, Schulwissen, Fragen aus dem Beruf, Lebenswissen, Kombinationsfähigkeit, Merkfähigkeit, etc. befragt. Zudem wurde mittels der Schulbezirksbehörde eine Sippenüberprüfung durchgeführt. Der Amtsarzt von Fürstenfeld befand nach den vorliegenden Gutachten, dass N.N. „hochgradige Intelligenzdefekte“ habe und eine „Sippenbelastung“ bestehe. Er beantragte die Sterilisierung des 17-jährigen und fügte die Anmerkung „mit Fortpflanzungsgefahr muss bei N.N. mit Rücksicht auf sein Alter gerechnet werden“, bei. Die Pflegerin von N.N. beschwerte sich über den Antrag, doch das Erbgesundheitsgericht in Graz ordnete schlussendlich „wegen angeborenen Schwachsinns“ die Unfruchtbarmachung des jungen Mannes an. (Steiermärkisches Landesarchiv. BH Fürstenfeld, 12/E2 Erb und Rassenpflege A-G, Karton 106, Jg. 1939/45)
Die Menge der Sterilisationsanträge der einzelnen Gesundheitsämter unterschied sich stark und war abhängig vom persönlichen Eifer des jeweiligen Amtsarztes. Nach der Erstellung der Gutachten durch den Amtsarzt wurde die Zwangssterilisation beim Erbgesundheitsgericht beantragt, das jedem Amtsgericht angegliedert war. Das Erbgesundheitsgericht entschied über die Anträge. Es bestand aus einem Richter und zwei Ärzten, tagte nicht öffentlich und konnte somit auch willkürlich handeln. Es konnte daher eine Sterilisierung verfügen, die auch gegen den Willen des Betroffenen unter Zwang durchgeführt werden konnte. Gegen das Urteil konnte aber auch Berufung eingelegt werden, und teilweise wurden diese Urteile auch revidiert.
Beschloss das Gericht die Unfruchtbarmachung, so wurde diese in regulären Krankenanstalten von Ärzten vorgenommen. Berechtigt dazu waren Ärzte, in der Regel Chirurgen, Radiologen oder Röntgenfachärzte, in fast jedem Bezirkskrankenhaus. Einer dieser Ärzte war Dr. Wilhelm Smital, Primarius im Gaukrankenhaus Oberwart und Verantwortlicher für die „Volksgesundheit“ im Kreis Oberwart.
Die meisten Sterilisationen bzw. Kastrationen wurden entweder durch Röntgenbestrahlung oder auch durch einen chirurgischen Eingriff durchgeführt. Für die Opfer bedeuteten diese Zwangssterilisierungen nicht nur einen Eingriff an ihrem Körper, sondern in der Folge auch vielfach physische und psychische Leiden. In Österreich geht man davon aus, dass zwischen 6.000 und 10.000 Opfer der Zwangssterilisierung wurden.
Quelle: Stmk. Landesarchiv
Quelle: Wiener Stadt- und Landesarchiv
Quellen
Literatur:
WStLA, Vr. 681/55, Gelny, Teil 1, 2. Band, S. 434
Niederösterreichisches Landesarchiv
Steiermärkisches Landesarchiv. BH Fürstenfeld, 12/E2 Erb und Rassenpflege A-G, Karton 106, Jg. 1939/45
Wiener Stadt- und Landesarchiv