Burgenland
Erste urkundliche Erwähnungen von Juden auf dem Gebiet des heutigen Burgenlandes stammen aus dem 13. Jahrhundert. Vor allem 1496, nach der Vertreibung der Landjuden aus der Steiermark und Kärnten unter Kaiser Maximilian I., und 1526, dem Jahr der Vertreibung aus Ödenburg und anderen ungarischen Städten nach der Schlacht von Mohács, fanden viele Vertriebene Zuflucht auf damals westungarischem, heute burgenländischem Gebiet. Der große Zuwachs an jüdischen Siedlungen und der Beginn einer kontinuierlichen Besiedlung auf dem Gebiet des heutigen Burgenlandes ist jedoch erst im zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts nach der Ausweisung der Juden aus Wien, Niederösterreich und Oberösterreich (1670/71) durch Kaiser Leopold I. zu verzeichnen. So gehörten einige der aus Wien vertriebenen Juden zu den Gründern der jüdischen Gemeinde Eisenstadt. Es entstanden zu dieser Zeit auch die jüdischen Gemeinden Kittsee, Frauenkirchen und Deutschkreutz, andere jüdischen Gemeinden – wie Mattersdorf, Lackenbach und Kobersdorf – wurden 1671 wiedererrichtet. Im heutigen nördlichen und mittleren Burgenland entstanden unter dem „Schutz“ der Familie Esterházy die so genannten „Sieben-Gemeinden“ (hebr. „Scheva Kehillot“): Kittsee, Frauenkirchen, Eisenstadt, Mattersdorf (ab 1924 Mattersburg), Kobersdorf, Lackenbach und Deutschkreutz. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts bestanden neben diesen Fürstlich Esterházyschen Gemeinden und der Gräflich Esterházyschen Gemeinde Gattendorf auch noch fünf jüdische Gemeinden unter dem Schutz der Fürsten bzw. Grafen Batthyány. Im heutigen Südburgenland waren das die Gemeinden Rechnitz, Güssing und Stadtschlaining (ab 1929 wegen Abwanderung der Juden nur noch Tochtergemeinde der neu gegründeten Gemeinde Oberwart) und die auf heute ungarischem Boden liegenden Gemeinden Körmend und Nagykanizsa. Die Ansiedlung von Juden auf den jeweiligen Herrschaftsgebieten erfolgte aus wirtschaftlichen Überlegungen. So genannte „Schutzbriefe“, die immer wieder erneuert wurden, regelten auf Vertragsbasis bis ins kleinste Detail die Rechte und Pflichten der Untertanen. Die Juden mussten regelmäßig Schutzgebühren entrichten und durften dafür in Krisenzeiten den Schutz der Herrschaft in Anspruch nehmen. Beginnend mit dem Toleranzpatent Joseph II. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, das Juden mehr Rechte einräumte (Berufszulassungen, Pachterlaubnis für landwirtschaftliche Güter etc.), begann die Zeit der allmählichen Gleichstellung. Mit der Revolution von 1848 war zwar das Abhängigkeitsverhältnis der Juden vom Grundherren und damit die „Schutzjudenschaft“ beendet, dennoch waren sie noch keine gleichberechtigten Staatsbürger. Der Prozess der sozialen und rechtlichen Angleichung der Juden an die nichtjüdische Bevölkerung wurde auf gesetzlicher Ebene erst 1867 durch den so genannten „Ausgleich“ (am 15. März 1867 wurde das staatsrechtliche Verhältnis zwischen Österreich und Ungarn neu geregelt) mit der politischen und bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden abgeschlossen. Ab 1871 hatten die Juden im westungarischen Raum auch die Möglichkeit, politisch autonome Gemeinden zu errichten, wobei lediglich die Eisenstädter Juden diese politische Autonomie bis 1938 behalten konnten. Mit den gesetzlichen Veränderungen wurden schrittweise auch die einschränkenden Bestimmungen für Juden hinsichtlich Aufenthalt, Ansiedlung und Grunderwerb aufgehoben. Dies führte Mitte des 19. Jahrhunderts zu Migrationsbewegungen und zu Abwanderungen aus dem westungarischen Raum in kleinstädtische Zentren, aber auch nach Wien, Graz und Budapest. In der Mitte des 19. Jahrhunderts lebten auf dem Gebiet des heutigen Burgenlandes über 8.000 Juden, wobei in manchen Gemeinden (etwa in Lackenbach) der jüdische Bevölkerungsanteil über 50 % betrug. Im Jahr 1934 wohnten rund 4.000 Juden in dieser Region.
1938
Die Juden des Burgenlandes bekamen die Folgen des so genannten „Anschlusses“ Österreichs an Deutschland im März 1938 wesentlich schneller und stärker zu spüren, als die in den anderen Bundesländern. Durch das Geltendwerden der NS-Gesetze wurden Juden in Österreich recht-, heimat- und besitzlos und im Burgenland - buchstäblich über Nacht – ausgewiesen und vertrieben. Träger und Initiator dieser Entwicklung war vor allem der nationalsozialistische Landeshauptmann und spätere stellvertretende Gauleiter der Steiermark Dr. Tobias Portschy, der neben der „Zigeunerfrage“ auch die „Judenfrage“ mit nationalsozialistischer Konsequenz lösen wollte. Aber auch unzählige Parteigänger und Mitläufer waren an der Vertreibung und den „Arisierungen“ beteiligt. Das jüdische Vermögen wurde von den NS-Behörden beschlagnahmt und in vielen Fällen weit unter seinem Wert an Nichtjuden verkauft. In den ersten Tagen nach dem 12. März 1938 waren es auch Dorfnachbarn und lokale NS-Ortsgruppen, die sich der Möbel und Warenlager jüdischer Häuser und Geschäfte eigenhändig bemächtigten. Einige Wochen später wurde die systematische Enteignung jüdischen Vermögens der Gestapo und der Vermögensverkehrsstelle in Wien und Graz unterstellt. Die jüdischen Bewohner mussten binnen kurzer Zeit das Burgenland verlassen. Einige flohen nach Wien. Andere versuchte man ins Ausland abzuschieben. Es kam dabei zu Tragödien an den Grenzstellen, da oft die Einreise verweigert wurde. Viele waren mittellos und ohne Reisepass. Nachdem diese Vorfälle an den Grenzen auf internationale Kritik stießen, wurden die Abschiebungen zwar fortgesetzt, jedoch nicht mehr ins Ausland, sondern nach Wien. Am 17. Juni 1938 befanden sich laut Statistik der Israelitischen Kultusgemeinde 799 burgenländische Juden in Wien, in der Mehrzahl stammten sie aus den Gemeinden Deutschkreutz, Lackenbach und Rechnitz. Aus Frauenkirchen und Kobersdorf setzte die große Abwanderung nach Wien im Juli und August 1938 ein. Die Mattersburger Juden folgten im September 1938, und im Oktober 1938 verließen die letzten Juden Eisenstadt. Am 30. November 1938 zählte man 1700 burgenländische Juden in Wien. Anfang November 1938 meldete der Wochenbericht der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, dass im Burgenland keine Kultusgemeinden mehr bestünden. Jene Juden aus dem Burgenland, denen die Flucht von Wien aus nicht mehr möglich war, wurden im Oktober 1939 nach Polen, im Frühjahr und im Herbst 1941 in die Konzentrationslager von Lodz, Riga, Minsk und Lublin deportiert und dort ermordet.
Rechnitz
Die größte, bedeutendste und (wahrscheinlich) älteste Judengemeinde des Südburgenlandes war Rechnitz, dessen erste Ansiedlung nicht exakt datiert werden kann. Die erste urkundliche Erwähnung jüdischer Familien findet sich in einem Urbar der Schlaininger Familie Baumkircher, wo für die Herrschaft Rechnitz aus der Zeit vor 1527 die beiden jüdischen Familien Spiegel und Grünwald genannt werden. Sie waren mehr oder weniger geduldet. Durch die Ansiedlung erhofften sich die Grundherren wirtschaftliche Vorteile.
Die „Schutzbriefe“ der Grundherrschaft bildeten die rechtliche Basis der Siedlungs- und Aufenthaltserlaubnis. So regelten sie die Rechte und Pflichten der jüdischen Bevölkerung, die regelmäßig Schutzgebühren entrichten musste, um im Ort leben zu dürfen und von der Grundherrschaft geschützt zu werden. 1687 war dies das erste Privileg solcher Art, das die Familie Batthyány den Rechnitzer Juden gewährte.
Die Rechnitzer Juden dürften zumindest teilweise aus Italien (Venedig) zugewandert sein und spanischer Herkunft gewesen sein. Die Judensiedlung ist als eine Tochtergründung der großen Gemeinde Nagykanizsa zu betrachten. 1676 wurden 42 jüdische Familien gezählt, 1727 bereits 160 Familien. Im Jahr 1753 werden 323 jüdische Personen genannt. Die Kirchenschematismen der Diözese Szombathely weisen für Rechnitz 907 Jüdinnen und Juden für das Jahr 1839, 20 Jahre später eine jüdische Bevölkerung von 880 Personen aus.
Zum Höchststand der jüdischen Gemeinde zur Mitte des 19. Jahrhunderts finden sich recht unterschiedliche Zahlen in den vorhandenen Quellen: Anlässlich der Ausstellung „Zerstörte jüdische Gemeinden“ wird der Höchststand um 1850 mit 850 Mitgliedern angegeben. Das Österreichische Jüdische Museum (Eisenstadt) spricht von 859 Juden. Hans Temmel gibt für 1841 916 jüdische Personen (21 % der Gesamtbevölkerung) an.
Für Rechnitz sind zwischen 1839 und 1844 sowie zwischen 1871 und 1874 größere Abwanderungsschübe zu beobachten. 1880 hatte sich die jüdische Gemeinde nahezu halbiert. Aufgrund der Industrialisierung und der Verlegung der vorher in Rechnitz angesiedelten Militärgarnison zogen viele Juden in die größeren Städte wie Szombathely, Budapest und Wien oder emigrierten nach Übersee. Dadurch ergab sich eine Abnahme der Mitgliederzahl auf 311 im Jahre 1900. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges verringerte sie sich auf kaum 250. Mit der neuen Grenzziehung 1921 setzte sich die Abwanderung (meistens in Richtung Wien) fort. Der letzte Gemeinderabbiner beendete zwei Jahre später seine Tätigkeit, weil die schrumpfende Gemeinde dessen Entlohnung nicht mehr bezahlen konnte. In Österreich existierte keine orthodoxe Landeskanzlei, weshalb nach dem Anschluss Deutschwestungarns 1922 der „Verband der autonomen orthodoxen israelitischen Kultusgemeinden des Burgenlandes“ gegründet wurde. Die Kultusgemeinde von Rechnitz erklärte offenbar 1923, sich anschließen zu wollen. Doch weitere Initiativen blieben unklar. Es scheint aber, als wäre Rechnitz zwar eher eine konservativ eingestellte, aber nicht streng orthodoxe Gemeinde gewesen. Die sich allgemein seit 1930 verschlechternde wirtschaftliche Lage ließ auch die jüdischen Geschäftsleute und die Kultusgemeinde verarmen.
1934 lebten noch 170 Juden in Rechnitz. Per 15. März 1938 umfasste die israelitische Kultusgemeinde 125 Personen.
Rechnitz vor 1938 (Quelle: Gemeindearchiv Rechnitz)
Links
Quellen
Literatur:
Baumgartner, Gerhard: Geschichte der jüdischen Gemeinde zu Schlaining. Schlaining 1988.
Habres, Christof/Reis, Elisabeth: Jüdisches Burgenland. Entdeckungsreisen. Wien 2012.
Hörz, Peter F.N.: Jüdische Kultur im Burgenland. Historische Fragmente - volkskundliche Analysen. Wien 2005.
Klein, Karl: Beiträge zur Geschichte der Großgemeinde Rechnitz. Gemeindeamt Rechnitz (Hg.). Rechnitz o.J.
Kropf, Rudolf: Beiträge zur Sozialgeschichte des südburgenländisch-westungarischen Judentums vom Toleranzpatent Josephs II. bis zur Revolution von 1848. In: Forscher – Gestalter – Vermittler. Festschrift Gerald Schlag (= WAB 105). Eisenstadt 2001, S. 209–223.
Temmel, Johann: Die jüdische Gemeinde in Rechnitz. In: Gombos/Gruber/Teuschler (Hgg.): „... und da sind sie auf einmal da gewesen.“ Zur Situation von Flüchtlingen in Österreich. Beispiel Rechnitz. Oberwart 1992, S. 69-102.
Internet:
http://www.vhs-burgenland.at/home/Geschichte_und_Zeitgeschichte_files/01einfuehrung.pdf (16.3.2015)
http://www.vhs-burgenland.at/home/Geschichte_und_Zeitgeschichte_files/12rechnitz.pdf (3.11.2014)
Archive:
Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien
Burgenländisches Landesarchiv Eisenstadt
Gemeindearchiv Rechnitz
RE.F.U.G.I.U.S.